In Deutschland haben wir einen bemerkenswerten Zulauf für die AfD zu verzeichnen. Es stehen Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern (Brandenburg, Sachsen, Thüringen) an, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die AfD dort Stimmanteile einfahren wird, die sie unter sonst gleichen Umständen zur Regierungspartei machen würden.
Das allein wäre freilich noch kein Grund zur Sorge. Politische Parteien treten ja mit dem erklärten Ziel der Machtübernahme an, um einen gestalterischen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu können. Um zu diesem Einfluss zu gelangen, nennen Parteien Ziele, von denen sie glauben, dass ihre Umsetzung das Wohlergehen einer Gesellschaft steigert. Wie steht es in diesem Zusammenhang mit der AfD? Kann man dafür argumentieren, dass die Umsetzung ihrer Ziele das Wohlergehen der deutschen Gesellschaft steigern würde? Mir scheint, dass sich dafür nicht argumentieren lässt. Um dies zu untermauern, greife ich einige Ziele auf, die von der AfD ausgegeben werden:
Homogenisierung der Bevölkerung
Wenn es nach der AfD ginge, würde Einwanderung nach Deutschland soweit es geht unterbunden werden. Es sollten sogar möglichst viele Zugewanderte wieder außer Landes geschafft werden, und das möglicherweise in einem Grade, der auch in Deutschland geborenen Kindern von Zugewanderten die Ausreise auferlegt. Wie immer man nun den angestrebten Grad der Homogenisierung auch ausfallen lassen will, erhebt sich grundsätzlich die Frage, wozu das gut sein sollte. Freilich – wenn ein irgendwie definiertes ethnisches Deutschtum ein zuverlässiges Indiz für bessere „Bürgerqualität“ wäre, könnte man für eine solche Homogenisierung argumentieren. Aber für ein solches Indiz fehlt jeglicher Beleg. In unterschiedlichen ethnischen Gruppen finden sich erfreuliche ebenso wie unerfreuliche Charaktere, und es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass ethnisches Deutschtum eine hohe Bürgerqualität bedingen würde.
Darüber hinaus ist die Lage in Deutschland durch einige Aspekte gekennzeichnet, die Immigration als wohlstandserhaltenden Faktor notwendig machen – Fachkräftemangel, Pflegenotstand, Überalterung, sinkende Geburtenraten. Die AfD möchte natürlich die ethnischen Deutschen massiv zum vermehrten Kinderkriegen motivieren. Aber wer möchte sich einen solchen Lebenswandel aufzwingen lassen? Und wieder die Frage: Warum sollten ethnische Deutsche besser geeignet sein, die Probleme des demographischen Wandels zu lösen?
Schließlich: Soll der Zahnarzt meines Vertrauens, zu dem ich seit mehr als 20 Jahren gehe, das Land verlassen, weil sein Vater Rumäne war? Und ich muss dann schauen, wie ich einen Zahnarzttermin bei den verbliebenen ethnisch-deutschen Zahnärzten finde, wo sich dann die Patienten für die Jahre auf die Füße treten, bis die demographischen Maßnahmen der AfD neue ethnisch-deutsche Zahnärzte hervorgebracht haben?
Haken wir es ab – dieses Ziel der AfD dient garantiert nicht dem Wohlergehen der Gesellschaft.
Europa
Die AfD hält die EU für ein gescheitertes Projekt und strebt einen Kompetenzrückbau des EU-Parlaments bei gleichzeitiger Stärkung der Souveränität der einzelnen Nationalstaaten an. Das wäre eine radikale Reform der EU, an deren Ende ein Bund von Nationalstaaten anstelle einer europäischen Union stehen würde. Sollte eine solche Reform nicht gelingen, müsse man einen Austritt aus der EU ins Visier nehmen.
Wieder stellt sich die Frage, wozu das gut sein sollte. Deutschland ist ein rohstoffarmes Land, dessen Wohlstand vor allem darauf beruht, günstig Rohstoffe zu importieren, sie zu höherwertigen Produkten weiterzuverarbeiten und dann teurer exportieren zu können. Für einen effizienten Ablauf dieses Systems ist eine möglichst reibungsfreie Integration der europäischen Märkte unabdingbar.
Hinzu kommt, dass die Konkurrenz nicht schläft. Europa (und mittendrin Deutschland) befindet sich in einem Konkurrenzkampf mit Kolossen wie den USA und China und hat in einer globalisierten Welt nur als Einheit eine Aussicht auf dauerhafte Prosperität. In dieser Situation eine Restitution der Nationalstaatlichkeit zu fordern oder gar einen „Dexit“ anzudenken, ist de facto ein Aufruf zu einem ökonomischen Harakiri.
Haken wir es ab – auch dieses Ziel der AfD dient garantiert nicht dem Wohlergehen der Gesellschaft.
Russland
Die Haltung der AfD gegenüber Russland im Ukraine-Krieg ist erfreulich klar und deutlich – sie fordert ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine und eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Was das bedeuten würde, ist ebenso klar: Die Ukraine würde den Krieg gegen Russland und damit ihr Territorium zügig verlieren. Auf der anderen Seite scheint die Hoffnung zu sein, hier in Deutschland wieder zügig in den Genuss billiger Rohstoffimporte aus Russland zu kommen. Das zugrundeliegende außenpolitische Prinzip lässt sich leicht erkennen: Lasse andere Länder machen, was sie wollen, und konzentriere Dich nur darauf, rentable Handelsbeziehungen mit ihnen zu unterhalten.
Angesichts der Tatsache, dass ein Befolgen des außenpolitischen Prinzips der AfD bedeuten würde, dass in der Ukraine mit ausuferndem Morden, Foltern und Vergewaltigen zu rechnen ist, mit einer Zerstörung des Landes und der Unterdrückung seiner Bevölkerung durch ein Terror-Regime, darf man fragen, ob sich eine solche Außenpolitik wirklich der sympathischen Zustimmung empfiehlt. Was würden die Vertreter der AfD wohl sagen, wenn sie selbst von einem russischen Angriff betroffen wären? Würden sie Helfern entgegenrufen: „Ach, bleibt ruhig weg. Das geht Euch nichts an. Kauft weiter Öl und Gas von den Aggressoren“? Das erscheint zweifelhaft.
Darüber hinaus ist fraglich, ob ein allgemeines Befolgen dieser Idee die Sicherheit des Friedens in der Welt stärken würde. Wer in der Nähe eines militärisch starken Landes mit großen Rohstoffvorkommen könnte sich noch sicher fühlen?
Schließlich erscheint die Annahme, Russland würde sich mit der Unterwerfung der Ukraine zufriedengeben, mindestens blauäugig. Die Ukraine ist das größte Land, dessen Grenzen vollständig in Europa liegen. Russland würden mit der Ukraine gigantische Ressourcen und ein weit nach Westen reichendes Territorium in die Hände fallen. Die Bedrohung durch einen Staat, dessen Regierung ihre Machtposition vornehmlich durch Kontrolle, Unterdrückung und das Ausschalten jedweder Opposition sichert, würde erheblich wachsen. Dass sich Russland dann mit der Rolle eines günstigen Rohstoffexporteurs zufrieden geben würde, erscheint wenig glaubhaft.
Natürlich könnte man auch die Meinung vertreten, dass die Einrichtung russischer Verhältnisse in Deutschland gar nicht als Bedrohung zu werten ist. Aber wir reden hier über das Wohlergehen der Gesellschaft, und dem würde die Außenpolitik der AfD (um auch diesen Punkt abzuhaken) mit Sicherheit nicht zuarbeiten.
Wirtschaftspolitik
Der wirtschaftspolitische Kurs der AfD ist neoliberal, also generell auf die Minimierung staatlicher Einflussnahme gerichtet – die Regelung der ökonomischen Verhältnisse soll weitestgehend durch die freien Kräfte des Marktes erfolgen. Steuerentlastungen und Privatisierungen sollen die wirtschaftliche Aktivität befeuern, so dass der Staat zwar weniger Einkünfte hat, aber auch weniger Einkünfte braucht, zumal ja die Individuen mehr ökonomische Eigenverantwortung übernehmen. Der Staat gibt seine vom Bürger als „Gängelung“ empfundene Lenkungswirkung an die Mechanismen des Marktes ab und konzentriert sich darauf, jungen deutschen Paaren Anreize zum Kinderkriegen zu geben.
Mit diesen Paaren und den Empfängern der Steuergeschenke (was vor allem „die oberen 10.000“ sind, insofern sie nicht wesentlich vom Handel mit Europa profitieren) gäbe es nun tatsächlich zum ersten Mal Menschen, deren Wohlergehen vom politischen Programm der AfD profitieren würde.
Aber liefert das einen Grund, im Sinne des Wohlergehens der Gesellschaft die AfD zu wählen? Ein neoliberaler Wirtschaftskurs, wie ihn z. B. Margaret Thatcher durchgesetzt hatte, veranlasste immerhin den Ökonomen und Spieltheoretiker Ken Binmore zu der Äußerung: „Als ich nach England zurückkehrte, musste ich feststellen, dass Maggie Thatcher eine Unterklasse geschaffen hatte“. Man muss also auch mit einer Schattenseite des Neoliberalismus rechnen, und auf der findet sich Einiges – die Schwächung und Beschneidung von Arbeitnehmerrechten, die Kürzung von Sozialleistungen und natürlich auch die Verkümmerung der kommunalen Daseinsfürsorge etwa in Gestalt von Schulen, Spielplätzen oder Schwimmbädern. Es bleibt schleierhaft, wie diese Form der Wirtschaftspolitik dem Wohlergehen der Gesellschaft zuarbeiten könnte.
Bildung
Die AfD möchte das universitäre Bachelor/Master-System wieder zugunsten des alten Magister- und Diplom-Systems abschaffen. Das BA/MA-System wurde um die Jahrtausendwende mit großem Verwaltungsaufwand eingeführt. Es gab damals die Kritik, dass das Ausbildungsniveau der Studienabschlüsse leiden würde, aber diese Kritik konnte nicht bestätigt werden. Das Ausbildungsniveau deutscher Studienabsolventinnen und -absolventen ist weiterhin herausragend. Zudem hat der Umstieg auf das BA/MA-System dank der mit ihm verbundenen Erleichterung der nationalen und internationalen Vergleichbarkeit von Studienleistungen und -abschlüssen einen unersetzlichen Beitrag zur nationalen und internationalen Mobilität der Studierenden geleistet. Der Nutzen aus dem induzierten wechselseitigen Austausch von Ideen und Kritik kann schwerlich überschätzt werden.
Welcher Nutzen könnte mit einer Rückkehr zu Magister und Diplom verbunden sein? Da das akademische Niveau des Studiums in Deutschland unter der Einführung des BA/MA-Systems nicht gelitten hat, würde es von der Abschaffung des Systems vermutlich auch nicht profitieren. Wir hätten erneut einen ungeheuren Verwaltungsaufwand, nur wäre nicht zu sehen, wozu er gut sein sollte. Was abzusehen wäre, wäre ein Verlust an studentischer Mobilität und in der Folge eine dazu proportionale Verkümmerung des wechselseitigen Austausches. Könnte das unter irgendwelchen Bedingungen wünschenswert sein? Ja – wenn ein optimales Funktionieren des akademischen Systems dann gewährleistet wäre, wenn deutsche Studierende nur in Deutschland studieren und dabei unter sich bleiben. Dafür jedoch spricht nichts. Zu erwarten wären daher lediglich eine Regionalisierung und Provinzialisierung des Studiums, also wieder einmal nichts, was das Wohlergehen der Gesellschaft befördern würde.
Klimawandel
Einer der überraschendsten Programmpunkte der AfD besteht darin, dass sie sämtliche Maßnahmen gegen die Erderwärmung schlicht ablehnt, weil sie die Anthropogenität (= menschliche Verursachung) des Klimawandels für ein Märchen hält. Warm- und Kaltzeiten habe es in der Erdgeschichte immer gegeben, und wir würden uns nun eben in einer Erwärmungsperiode befinden. Dass menschliche Aktivitäten hier eine entscheidende Rolle spielen würden, wird als ideologisch motivierte Panikmache abgetan, mit der die „Kartellparteien“ im Verbund mit einer indoktrinierten Wissenschaftsgemeinschaft versuchen, die Bevölkerung zu schröpfen, um Projekte zu finanzieren, die nur den egoistischen Interessen der gegenwärtigen Machthaber dienen.
Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass auch dieser Programmpunkt seine Verdienste hat, wenn es um das Wohlergehen der Gesellschaft geht. Statt Einsparungen von Emissionen einzufordern, die möglicherweise mit Einschränkungen, Verhaltensänderungen und Kosten einhergehen, wird uns einfach empfohlen, so weiterzumachen wie bisher. Gleichzeitig offenbart sich hier aber eine vermutlich ihrerseits ideologiegetriebene Ignoranz der Wissenschaften, wie man sie sonst nur aus religiös-fundamentalistischen oder esoterischen Kreisen kennt. Natürlich kann man die Anthropogenität des Klimawandels nicht so sinnfällig belegen wie die Tatsache, dass Natrium eine Flamme gelb färbt, aber die Daten, die wir haben, belegen diese Anthropogenität mit mindestens der Glaubwürdigkeit, die wir z.B. für die These haben, dass Aristoteles wirklich gelebt hat. Entsprechend dürfte klar sein, dass der Nutzen, den die „Weiter so“-Programmatik der AfD stiftet, sich auf diejenigen beschränkt, die ab jetzt vielleicht noch 20-30 Jahre oder weniger zu leben haben. Alle anderen werden eine Zeche für diese Politik zu zahlen haben, deren Höhe sehr leicht alles übersteigen könnte, was wir uns im Moment vorzustellen geneigt sind. Von Wohlergehen wird dann nur in roten Zahlen zu lesen sein.
Es erhebt sich also die Frage, warum trotz all dieser Programmpunkte, die nicht geeignet sind, das Wohlergehen der Gesellschaft zu fördern, gleichwohl so viele Menschen die AfD wählen wollen. Sind sie gar nicht am Wohlergehen der Gesellschaft interessiert? Meine Vermutung ist, dass sie schon daran interessiert sind, dabei aber einer Leimrute der AfD in die Falle gegangen sind, die tatsächlich überaus verlockend ist. Diese Leimrute hat zwei Stränge:
- Die AfD erzählt uns, dass es Deutschland und seiner Bevölkerung sehr schlecht geht und dass es uns allen ganz leicht viel besser gehen könnte. Wenn man ein bisschen dazu neigt, sich für jemanden zu halten, dem es eigentlich viel besser gehen könnte oder sollte (und viele neigen dazu), greift man eine solche Botschaft nur zu leicht auf. Gerade die Corona-Pandemie hat beste Bedingungen für die Verbreitung dieser Botschaft geschaffen.
- Noch anziehender wirkt die Botschaft der AfD, wenn sie durch den ebenfalls von der AfD propagierten Hinweis ergänzt wird, dass man nicht selbst an seiner mutmaßlichen Misere schuld ist, sondern andere – die Regierung, die EU, die Immigranten, die Ausländer, am besten konglomeriert zu einer geheimen Verschwörung, einer unheiligen Allianz, deren Ziel darin besteht, aus dem guten alten Deutschland mit seinen arbeitsamen Handwerkern einen verwahrlosten Schmelztiegel der Kulturen zu machen, in dem fremde Messerstecher, Vergewaltiger und Faulenzer fröhliche Urständ feiern können. Schaffe einfach durch ein Kreuz bei der AfD auf dem Wahlzettel diese Allianz ab, und dann floriert Dein Glück von selbst!
So verlockend diese Leimruten sein mögen, bleiben es doch Leimruten, die die uns zweifellos innewohnende Tendenz ansprechen, uns selbst zu bemitleiden und die Schuld bei anderen zu suchen. Deutschland und seiner Bevölkerung geht es aber nicht so schlecht wie es die AfD suggeriert, und den Weg zum eigenen Glück wird man immer noch selbst finden müssen. Es stellt sich nicht einfach dadurch ein, dass die Politik das eigene Land isoliert und von auswärtigen Einflüssen abschottet. Es ist einfach nicht zu sehen, wozu der illiberale Nationalismus der AfD gut sein sollte. Ganz im Gegenteil – wir finden zahlreiche Hinsichten, in denen er dem Wohlergehen der Bevölkerung schaden würde.
Kann man also einen vernünftigen Grund dafür angeben, AfD zu wählen? Nein!
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